11. Dezember 2025
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Emotionsforschung, Teil 3: Schockierende Wahrheiten

Quadratisches Thumbnail mit dem Titel ‚Drei schockierende Wahrheiten zu Körper, Gesicht und Gehirn‘, Jautschus-Logo und Portrait von Robert Jautschus als Teil der Serie ‚Wie Gefühle entstehen‘.

Warum es den „emotionalen Fingerabdruck“ gar nicht gibt

Einleitung: Die große Fehleinschätzung

Kennst du das? Dein Herz klopft bis zum Hals, bevor du die Bühne für die Präsentation betrittst. Deine Hände ballen sich fast automatisch zur Faust, wenn dir im Meeting jemand ins Wort fällt. Oder dieses warme Gefühl, das sich in deinem Gesicht ausbreitet, wenn du nach Hause kommst und deine Kinder lachen hörst. Es fühlt sich absolut real an. Und weil es sich so real anfühlt, gehen wir ganz selbstverständlich davon aus: Jedes Gefühl hinterlässt eine eindeutige Spur. Eine Art „emotionalen Fingerabdruck“, der bei jedem Menschen gleich ist – im Körper, im Gesicht und im Gehirn.

Jahrzehntelang hat die Wissenschaft genau nach diesem Fingerabdruck gesucht. Man wollte den ultimativen Beweis finden, dass Wut immer gleich aussieht und Angst immer gleich im Körper hämmert. Die ernüchternde, aber faszinierende Antwort nach Jahren der Forschung: Die Suche war erfolglos. Es gibt dieses Phantom nicht.

Das systematische Fehlen von Beweisen bringt das klassische Gebäude unseres Gefühlsverständnisses ins Wanken. Basierend auf den Untersuchungen der Emotionsforscherin Lisa Feldman Barrett demontieren wir heute in drei Akten diesen weitverbreiteten Irrtum. Und das wird dein Verständnis davon, was in dir vorgeht – ob im verhandelten Jahresgespräch oder beim Wutanfall deines Kleinkindes – grundlegend verändern.

Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett erklärt, wie Emotionen im Gehirn konstruiert werden.

Buchcover von „Wie Gefühle entstehen – Eine neue Sicht auf unsere Emotionen“ von Lisa Feldman Barrett, erschienen bei Rowohlt Polaris.

Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett erklärt, wie Emotionen im Gehirn konstruiert werden.

1. Dein Körper lügt nicht, aber er spricht auch keine eindeutige Sprache

Starten wir mit dem Körper. Lange dachte man: Wenn der Blutdruck steigt und das Herz rast, ist es Angst. Oder Wut. Die Wissenschaft wollte konsistente Muster finden, um Gefühle messbar zu machen. Die Ergebnisse aus großen Metaanalysen (über 220 Studien mit fast 22.000 Testpersonen) waren jedoch eindeutig: Es gibt keine spezifischen Muster.

Was bedeutet das konkret für dich?

  • Vielfalt ist die Norm: Bei manchen Menschen kocht der Körper bei Wut hoch. Andere werden eiskalt und ruhig. Wieder andere fangen an zu weinen.

  • Signale sind mehrdeutig: Ein erhöhter Herzschlag kann bedeuten, dass du Angst vor dem Feedbackgespräch hast. Er kann aber auch bedeuten, dass du dich riesig auf ein Projekt freust – oder dass du einfach zu viel Kaffee getrunken hast.

Dein Körper liefert zwar Rohdaten (Herzschlag, Schwitzen, Spannung), aber diese Daten haben kein festes Etikett. Wir können körperliche Signale also nicht isoliert betrachten, um unsere Gefühle oder die unserer Mitarbeiter und Kinder zuverlässig zu „lesen“. Dein pochendes Herz ist kein Beweis für Angst, es ist erst einmal nur ein pochendes Herz.

2. Dein Gesicht ist kein offenes Buch

Der zweite Akt widmet sich einem Mythos, der uns besonders im Führungsalltag oft teuer zu stehen kommt: Die Idee, dass ein Lächeln weltweit „Freude“ bedeutet und ein Stirnrunzeln „Ärger“. Lange stützte sich diese Annahme auf Forschungsmethoden, bei denen Testpersonen Fotos von Schauspielern bestimmten Gefühlsbegriffen zuordnen mussten. Heute wissen wir: Diese Methode war fehlerhaft.

Wie teuer dieser Irrtum sein kann, zeigt das US-Sicherheitsprogramm SPOT. Ganze 900 Millionen Dollar wurden investiert, um Terroristen an Flughäfen allein anhand ihrer Mimik (Mikroexpressionen) zu erkennen. Das Programm scheiterte grandios, weil es auf der falschen Annahme universell lesbarer Emotionen basierte.

Lisa Feldman Barrett deckte dies unter anderem bei einer Studie mit dem Volk der Himba in Namibia auf, die kaum Kontakt zur westlichen Welt hatten. Das Ergebnis war verblüffend:

  • Als die Himba Fotos von „typischen“ emotionalen Gesichtern sortieren sollten, legten sie diese nicht nach Gefühlen ab (traurig, wütend, glücklich).

  • Sie sortierten nach Handlungen: Ein lächelndes Gesicht war „lachend“, ein Gesicht mit aufgerissenen Augen „sehend“.

Dazu kommen spannende historische Fakten: Das Lächeln als reiner Ausdruck von Freude ist eine Erfindung, die sich erst im europäischen Mittelalter und später durch bessere Zahnmedizin im 18. Jahrhundert etablierte. Dein Gesicht ist also kein offenes Buch, in dem jeder lesen kann. Es ist ein flexibles Werkzeug der sozialen Kommunikation – und das wird stark durch Kultur und Erziehung geprägt.

Für dich als Führungskraft heißt das: Nur weil dein Mitarbeiter im Meeting emotionslos schaut, heißt das nicht, dass ihm das Thema egal ist. Und nur weil dein Kind nicht weint, heißt das nicht, dass es nicht traurig ist.

3. Gefühle haben keine feste Adresse im Gehirn

Im dritten und letzten Akt schauen wir direkt in deine Schaltzentrale. Die populäre Vorstellung: Es gibt im Gehirn ein „Angstzentrum“ (oft wird die Amygdala genannt) oder ein „Freudezentrum“. Wenn da der Strom angeht, fühlst du das entsprechende Gefühl.

Auch das ist wissenschaftlich überholt. Die Amygdala ist zwar oft bei Angst aktiv, feuert aber genauso stark bei Neugierde oder völlig unbekannten Reizen. Es gibt im Gehirn keine „neuronalen Fingerabdrücke“ für spezifische Emotionen. Stattdessen gelten zwei Prinzipien, die zeigen, wie flexibel unser Denkorgan ist:

  1. Degeneration (Viele-zu-eins): Eine Angsterfahrung kann heute durch ein bestimmtes Muster an Neuronen entstehen und morgen durch ein völlig anderes. Viele Wege führen zum gleichen Ergebnis.

  2. Mehrzweck-Schaltkreise (Eins-zu-viele): Dieselben Gehirnzellen können heute an „Wut“ beteiligt sein und morgen an „Gedanken über die Einkaufsliste“.

Emotionen wohnen nicht in spezialisierten Schubladen. Sie sind das Ergebnis einer dynamischen Zusammenarbeit riesiger Netzwerke, die auch für Denken, Wahrnehmen und Handeln zuständig sind.

Übersichtsgrafik mit drei Bereichen zu Körper, Gesicht und Gehirn, die zeigt, wie diese Ebenen in der Emotionsforschung zusammenhängen.

Übersichtsgrafik zu den drei Bereichen Körper, Gesicht und Gehirn im Rahmen der Serie ‚Wie Gefühle entstehen‘

Fazit: Das Phantom ist enttarnt, und jetzt?

Die jahrzehntelange Jagd nach dem objektiven Marker für Emotionen blieb erfolglos. Weder dein Körper, noch dein Gesicht, noch dein Gehirn haben einen festen biologischen Fingerabdruck für „Wut“, „Trauer“ oder „Freude“.

Das mag sich erst einmal verunsichernd anfühlen. Es stellt alles auf den Kopf, was wir über unsere innersten Zustände zu wissen glaubten. Aber es führt zu einer viel spannenderen Frage:

Wenn Emotionen keine fest verdrahteten Programme sind, wie erschafft das Gehirn dann diese absolut realen, konsistenten Erfahrungen, die wir täglich fühlen? Wie schafft es dein Gehirn, aus einem schnellen Herzschlag und einer E-Mail vom Chef blitzschnell „Angst“ oder „Wut“ zu konstruieren?

Genau diese Frage ist der Schlüssel zu mehr Gelassenheit – im Job wie zuhause. Denn wenn Gefühle konstruiertwerden, hast du auch einen Einfluss auf die Baupläne.

Ausblick auf Teil 4 der Serie

Im nächsten Teil lüften wir das Geheimnis: Wir schauen uns an, wie dein Gehirn Gefühle nicht einfach „empfängt“, sondern in jedem Moment aktiv konstruiert. Statt eines Reiz-Reaktion-Automaten laufen im Hintergrund drei Bausteine zusammen. Spannend wird es da, wo du als junge Führungskraft mit Familie genau an diesen Stellschrauben bewusst drehen kannst, im hitzigen Meeting genauso wie abends am Küchentisch.