28. Oktober 2025
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Neue Emotionsforschung für junge Führungskräfte
Eine 2.000 Jahre alte Annahme wird auf den Prüfstand gestellt
Seit Jahrtausenden scheint die Natur unserer Gefühle eine unumstößliche Wahrheit zu sein. Emotionen wie Trauer, Wut oder Freude fühlen sich wie urtümliche, angeborene Reflexe an, die von äußeren Ereignissen ausgelöst werden und sich bei allen Menschen auf der Welt auf dieselbe Weise manifestieren. Diese klassische Sichtweise prägt unser Denken in Medizin, Recht, Beruf und Alltag so tiefgreifend, dass sie uns im Führungs- und Familienleben als reiner Menschenverstand erscheint.
Doch was, wenn diese fundamentale Annahme (eine Hypothese, die über 2.000 Jahre Bestand hatte) auf einem wissenschaftlichen Irrtum beruht?
Die renommierte Neurowissenschaftlerin und Psychologin Lisa Feldman Barrett stellt genau diese traditionelle Sicht radikal in Frage. Ihre Forschungsergebnisse legen nahe, dass Emotionen nicht in uns angelegt sind, um von der Welt ausgelöst zu werden. Stattdessen werden sie von unserem Gehirn in jedem wachen Moment aktiv erschaffen: Sie werden konstruiert.
Dieser Paradigmenwechsel revolutioniert nicht nur das wissenschaftliche Verständnis des Geistes, sondern hat auch weitreichende Konsequenzen für unser Selbstverständnis in der Rolle als Führungskraft und als Elternteil.
Das Ziel dieser Blog-Reihe ist es, klar zu machen, wie Gefühle wirklich entstehen. Ich werde versuchen, die Kernthesen von Barretts Theorie der konstruierten Emotionen in diesen Blog-Posts verständlich zu erläutern, speziell im Kontext von Führung und Familie. Dazu beschreibe ich hier vorerst die zentralen Annahmen des klassischen Emotionsverständnisses und stelle ihnen dann die wissenschaftlichen Beweisen von Barrett gegenüber. Schließlich setzen wir die Bausteine der neuen Theorie zusammen, um ein neues Bild davon zu zeichnen, wie Gefühle in Ihrem Führungs- und Elternalltag entstehen.
Um diesen revolutionären Gedanken nachzuvollziehen, müssen wir jedoch zuerst verstehen, wonach die Wissenschaft jahrzehntelang vergeblich gesucht hat.
Ich bin selbst sehr gespannt, wohin uns diese Betrachtung vom Verständnis aktueller Forschungsergebnisse führen wird.
Der alte Blick auf Gefühle: Reflexe unserer Umwelt
In der klassischen Sichtweise wird angenommen, dass Gefühle automatisch ausgelöst werden:
Ein Ereignis passiert (z. B. im Meeting, im Familienalltag), ein Reiz trifft uns, und sofort folgt eine Emotion als eine Reaktion.
Als junge Führungskraft mit Kindern kennst du das vielleicht: Du kommst ins Büro, ein Kritikgespräch beginnt, und du denkst: „Der hat mich wütend gemacht“; oder zuhause: „Das hat mich traurig gemacht, weil mein Kind nicht hört“.
Doch genau hier setzt die neue Frage an: Wie entstehen Gefühle wirklich, wenn nicht als unmittelbare Reaktion?

Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett erklärt, wie Emotionen im Gehirn konstruiert werden.
Der neue Blick: Gefühle als Konstruktion des Gehirns
Nach Barretts Ansatz entstehen Emotionen nicht durch einfache Ursache-Wirkung, sondern durch einen aktiven Vorhersageprozess des Gehirns:
„Es nutzt vergangene Erfahrungen, aktuelle Körperzustände (z. B. Erschöpfung nach der Arbeit oder Schlafmangel zuhause), und den jeweiligen Kontext (Elternrolle, Führungsrolle, Teammeeting), um Bedeutung zu schaffen und so entstehen Gefühle.“
Für dich als Führungskraft und Elternteil bedeutet das: Deine Gefühle sind nicht unveränderlich, sondern das Ergebnis eines Prozesses, den du (hoffentlich) beeinflussen kannst.
Wenn du erkennst: „Ich war müde, mein Kind hat geweint und das Gehirn hat Wut konstruiert“, dann entstehen Möglichkeiten für Steuerung statt Ohnmacht.
Warum das für junge Führungskräfte mit Familie relevant ist
Führung heißt heute nicht mehr nur Entscheiden und Delegieren, sondern Emotionen erkennen, achten und berücksichtigen, in Meetings wie im Familienalltag. Wer versteht, wie Gefühle entstehen, kann das emotionale Klima im Team und zuhause beeinflussen.
Dies ist zu diesem Zeitpunkt vorerst eine Hypothese und wir werden später sehen, inwieweit sich dies bestätigt.
- In Feedback- oder Konfliktsituationen: Wenn du glaubst, Gefühle seien Reflexe, fühlst du dich oft ohnmächtig. Wenn du weißt, sie sind konstruiert, hast du einen Gestaltungsspielraum: „Ich wurde nicht einfach wütend. Mein Gehirn hat eine Wut-Vorhersage gemacht“.
- Für Selbstführung: Wer weiß, wie Gefühle entstehen, kann gelassener bleiben, bevor automatische Reaktionen dominieren. Das gilt fürs Team-Meeting genauso wie für das Gute-Nacht-Ritual mit dem Nachwuchs.
- Für Familien- und Führungsbalance: „Emotionale Intelligenz“ bedeutet nicht nur, die Gefühle anderer wahrzunehmen, sondern auch, zu verstehen, wie ich meine eigenen Gefühle erzeuge und wie das meine Rollen beeinflusst. Studien zeigen, dass Emotionen und Selbststeuerung wesentliche Bestandteile guter Führung sind.
Ausblick auf Teil 2 der Serie
Im nächsten Beitrag werden wir das klassische Verständnis von Emotionen erkunden: Die Suche nach dem „Fingerabdruck“. Dazu gehören dann auch die Betrachtungen der Säulen von „Angeborenheit“ und die Verwendung des Begriffs „Trigger“.
Es ist und bleibt spannend.

Visualisierung im Workshop: Welche Gefühle entstehen wirklich und was sie uns sagen.